1700 Jahre

Ha, jetzt geht’s also los. Die große Sause. 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Das muss gefeiert werden. Der mediale Overkill ist uns sicher. Betroffene Gesichter, viel Klezmer-Musik, junge Juden, die erklären, dass sie genau so sind wie alle, nur ein bisschen anders. Experten, die von der Geschichte der Juden in Deutschland erzählen („Es hat ja vor dem Holocaust eine sehr reiche und bunte jüdische Kultur gegeben!“), noch mehr Klezmer, dann wieder Politiker und andere, die erklären, wie dankbar sie sind, dass das jüdische Leben nach der Shoah in Deutschland jetzt wieder „blüht“ (ja? Ist das wirklich so? Hinter Panzerglas?). Noch ein bisschen Klezmer. Wenn wir dann so richtig viel Glück haben, werden ein paar deutsche Schauspieler in irgendeinem Film „jiddeln“ und glauben, das sei Jiddisch.

1700 Jahre – irgendwann wieder rum

Zwischendrin mal ein paar richtig gute Beiträge, das zum Glück auch. Und irgendwann ist das Jahr wieder rum… Puh… man hat’s überlebt. Und dann kommt der nächste antisemitische Übergriff, ob verbal oder physisch ist ganz egal (der kommt auch in diesem Jahr schon, eh klar. Und zwar nicht zu wenig). Und irgendwann wird dann wieder geschossen oder eine Bombe gezündet und dann sind wieder alle betroffen und so geht das immerzu weiter. Nur eines wird nicht geschehen: Normalität. Nein. Es wird keine Normalität in Deutschland einkehren. No f… way.

Nichts ist selbstverständlich

Zugegeben. Das Land hat’s nicht einfach. Vergangenheitsbewältigungsweltmeister auf der einen Seite, auf der anderen Verdrängungskünstler ohne Ende. Auf der einen Seite ehrliches, aufrichtiges Bemühen, auf der anderen viel „gut Gemeintes“ mit peinlichsten Fettnäpchen-Auftritten. Man weiß nicht genau, was man als Jude zu all dem sagen, wie man sich verhalten soll. Denn natürlich ist es etwas Schönes, dass ein Land feiert, dass es schon so lange Juden hier gibt. Dass man zeigt, dass jüdische Geschichte in Deutschland tatsächlich nicht nur Holocaust bedeutet. Dass man der jüdischen Minderheit buchstäblich Gesichter gibt. Erzählt, wie sie leben, wie sie denken, was sie tun. Aber – und das ist in Deutschland nicht zu ändern – mit jedem dieser Filme, Artikel und Berichten, wird immerzu auch manifestiert, dass das alles heute nicht selbstverständlich ist. Es hat keinerlei Leichtigkeit. Im Gegenteil. Der Antisemitismus in Deutschland wächst. Und sehr viele Juden denken darüber nach, ob sie wirklich noch eine Zukunft in Deutschland haben. Es ist eine extrem komplexe und schwierige Situation für nichtjüdische Deutsche. Das verstehe ich wirklich. Aber auch für Juden: man will als Jude gesehen und gleichzeitig als Jude in Ruhe gelassen werden. Ein Widerspruch in sich, der aber einfach dieser verdammten Vergangenheit geschuldet ist.

Schatten und Geister

Es ist ein Eiertanz, den Juden und Nichtjuden miteinander aufführen. In- und miteinander verstrickt. Und das wäre auch so – zumindest für die Nichtjuden – wenn die Juden Deutschland verließen. Als Schatten und Geister blieben sie im deutschen Bewußtsein (und Unterbewußtsein).

Ambivalenz – Leben ohne Grenzen

Was kann man also tun? Ich habe keine Antwort. Ich merke nur, dass auch ich ambivalent bin, was diese 1700-Jahr-Feier angeht. Doch Ambivalenz halten die Menschen in Deutschland nicht aus. Die Widersprüche des Lebens sind schwer erträglich. Man will es genau wissen. Schwarz oder Weiß. Klarheit, Festlegung, Eindeutigkeit. Geht aber nicht bei dem Thema. Geht auch nicht bei vielen anderen Themen, aber bei diesem wird es ganz besonders eingefordert, weil man sich sonst viel zu unsicher fühlt.

Was ich in all den Jahren, die ich nun schon im Nahen Osten bin, gelernt habe: Hier ist alles ambivalent. Einfach alles. Ambivalent und widersprüchlich, manchmal sogar sich gegenseitig ausschließend – und doch nebeneinander existierend. Nur wenn man dies erträgt und aushält, kann man im Nahen Osten leben. Und vielleicht ist es genau das, was man auch in Deutschland lernen muss, beide Seiten: Ambivalenz aushalten und auch genießen. Denn es lässt Grenzen verschwimmen, alles ist irgendwie möglich und nicht möglich. Und das kann ganz wunderbar sein.

7 Gedanken zu „1700 Jahre

  1. Danke für dieser Artikel der mir aus der Seele spricht.
    Übrigens, Es sind 2000 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Nicht weniger.
    Und noch was:
    Für 18 Million € konnte Mann viel besseres program entwickelt. Auch für die Zukunft. Und nicht nur selbst feiern.

  2. Große Nationen sind Schmelztiegel der Menschheit. Wie etwa Babylon, das hellenistische und das römische Reich in der Antike und das islamische Reich und Europa im Mittelalter, sowie Amerika in der Moderne. Sie ziehen Menschen aus aller Herren Länder an, die dort zunächst als Minderheiten starten, dann aber durch zunehmende Vermischung zu einer vielfältigen, bunten Nation zusammenwachsen. Diese vielfältigen Wurzeln verleihen ihnen mehr Freiheit im Denken und Handeln im Vergleich zu kleineren, homogeneren Nationen. Allerdings ist dieses Zusammenwachsen zu einer Nation auch eine Notwendigkeit, um interne Konflikte zu vermeiden. Denn in schlechten Zeiten droht sonst eine Spaltung der Gesellschaft an Bruchstellen, wo es Minderheiten nicht so richtig gelungen ist ein tragender Teil der Nation zu werden, womit diesen Minderheiten Ausgrenzung droht. Deshalb wenden viele große Nationen viel Energie darauf ihre am schwersten zu integrierenden Minderheiten oft mit einem starken Zwang zu integrieren. So werden etwa die Kinder indigene Gruppen oft gezwungen in Internate zu gehen, damit sie die vorherrschende Kultur und Sprache lernen. Das mag in unseren modernen Augen brutal klinge, da diese Kulturen damit dem Untergang geweiht sind. Aber es beugt andererseits dem Effekt des Konkurrenzauschlussprinzip vor, nach dem nicht zwei verschiedene Arten gleichzeitig die identische ökologische Nische besetzen können. Ist dies doch einmal der Fall so kommt es zwischen diesen beiden Arten zu einem gnadenlosen Konkurrenzkampf bei der die unterlegene Art verschwindet.
    In den letzten 1700 Jahren hat unsere Nation zahllose Menschengruppen integriert, darunter Franken, Sarmaten, Alemannen, Sueben, Hunnen, Slawen, Hugenotten, Franzosen, Polen, Italiener, Spanier, Briten, Russen und zahlreiche andere Menschen aus anderen Regionen der näheren und weiteren Umgebung von Europa. Sie alle sind inzwischen ein integraler Bestandteil unserer Nation und die meisten von uns wissen gar nicht mehr, welche dieser verschiedensten Gruppen zu ihren Vorfahren zählen. Geschweige denn, dass sie zu irgendeiner Art von Minderheit gehören würden. Daran kann man gut erkennen, dass es immer wieder am besten ist, nicht auf dem Status einer Minderheit zu beharren und darin zu verharren, sondern wenn man sich in ein neues Land begibt alle seine Bemühungen darauf zu lenken, Teil der neuen Nation zu werden, damit man selbst und noch mehr die eigenen Kinder dort die besten Chancen haben bald zur Mehrheit zu gehören. Wer darauf besteht zu einer Minderheit gehören zu wollen verstößt gegen das Naturgesetz des Konkurrenzauschlussprinzips und wird unweigerlich in Krisenzeiten immer wieder Schwierigkeiten durchleben. Das hat nichts mit dem bösen Willen der Mehrheit zu tun, sondern ist eben einfach ein Naturgesetz, dessen Gültigkeit man auf der ganzen Welt leider immer wieder beobachten muss.
    Zieht man sich dagegen in eine kleine Nation zurück, bei der man ebenfalls nur „unter sich“ bleiben will bekommt man auch dort als kleine Nation schnell wieder die Probleme, dass man die Chancen verspielt, die eine Zuwanderung verschiedener Menschengruppen mit sich bringen. Man hegt erneut die Angst als Minderheit im eigenen Land zu enden, weil man sich dem Verschmelzen der Völker entzieht und auf seiner Andersartigkeit besteht. Wieder eine Verstoß gegen ein Naturgesetz, das die Entwicklung der Menschen vorantreibt. Aber auch da sollte man sich lieber an die eigene Nase packen, statt der Natur einen Vorwurf zu machen.

  3. Ganz genau!
    auf der punkt gebracht!
    für 18 Mio könnte mann besseres Program entwickeln mit zukunft projekte.
    und übrigens es sind 2000 Jahre jüdisches leben in Deutschland.

  4. 1700 Jahre Raub, Mord u. Totschlag – eine deutsch-europäische
    Erfolgsgeschichte, angetrieben durch Klerus ( auch M.Luther )und Hochadel: Masel tov!

  5. Ok. Sie haben also in Ihrem Filmprojekt herausgefunden, dass es Antisemitismus von verschiedensten Seiten gibt. Das ist frustrierend und zugleich nicht überraschend. Welche Schlüsse kann man nun daraus ziehen? Wäre es nicht hilfreich die Lage mal mehr aus der Vogelperspektive zu betrachten, etwa im Hinblick darauf, was es denn sonst noch so für Vorurteile gegenüber anderen Kulturen oder Völkern gibt. Ist das nicht ein Phänomen, das alle betrifft in dem Sinne, dass so ziemlich jede menschliche Gruppe sich von anderen zu unterscheiden versucht, indem sie ihren „Nachbarn“ schlechte Eigenschaften zuschreibt und sich selbst in positiverem Licht darstellt. Ist es nicht allgemein menschlich seine Schwächen allzu gerne auf andere zu projizieren und diese dort, statt bei sich selbst zu bekämpfen. Psychologen können Ihnen darüber sicher ein Lied singen. Gibt es Kulturen oder Menschengruppen, die von anderen nur positiv gesehen werden? Oder gibt es die vielleicht gar nicht? Sind die Juden in diesem Kontext wirklich so eine große Ausnahme? Und welche Vorurteile haben denn nun wieder die Juden gegenüber anderen Kulturen und Völkern. Gerade Ihr Blog hat mir anschaulich vor Augen geführt, dass Sie auch ganz stark von ihren Vorurteilen leben und diese gerne überzeichnet wiedergeben. Da ist eben auch immer wieder pauschalisierend von DEN DEUTSCHEN die Rede, obwohl es die so genauso wenig gibt, wie DIE JUDEN oder DIE AMERIKANER usw.

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