Let it be

Sie können sich nicht vorstellen, was heute geschehen ist. Für mich war es wie ein Faustschlag in mein Gesicht.

Ich saß in einem Café, Hintergrundsmusik. Ein bißchen lateinamerikanische Musik, ein wenig Billy Joel, Elton John. Und dann: „Let it be“ – der Kaffeehausbesitzer drehte die Anlage laut auf. Alle um mich herum lächelten. Menschen, mehr oder weniger in meinem Alter. Aber neben mir, am Nebentisch, ein Pärchen, vielleicht 20 oder 22 Jahre alt. Sie hörten zu. Und schließlich sagte sie zu ihm: „Tolle Musik. Weißt Du wie der Sänger heißt?“ Er: „Nein, keine Ahnung, laß uns mal fragen, dann können wir die Musik streamen!“

Müssen wir uns mal reinziehen

Ich schaute sie wirklich fassungslos an. Und ich konnte mich kaum zurückhalten: „Was, ihr wißt wirklich nicht, wer diese Band ist?“ „Nö, muß man die kennen?“ kam es zurück, freundlich, nicht aggressiv.

„Ja, aber, wo lebt ihr denn, hinter’m Mond?“

„Nee, wieso?“ kam es wieder freundlich zurück.

Ich: „Hey, das ist Paul McCartney und die Beatles“.

„Aha. Wirklich gut. Das ist doch so etwa 70, 80 Jahre her?“

„Nein, keine…. äh…. 50 Jahre so in etwa…“

„Ja, also schon ewig. Aber echt, die sind wirklich gut. Müssen wir uns mal reinziehen.“

Das Pärchen vertiefte sich wieder in das eigene Gespräch. Zurück blieb…. ich. Ratlos. Nein, diese beiden jungen Menschen sind wahrscheinlich nicht repräsentativ. Man kennt die Beatler, auch die jüngere Generation, so wie wir auch noch Benny Goodman oder andere Musiker vor unserer Zeit kennen.

Condition humaine

Aber dennoch…. dieses Vorbeiziehen, diese Momentaufnahme von Nichtwissen, von Belanglosigkeit… das Erkennen, das einfach nichts für die Ewigkeit ist…. die gesamte  condition humaine zeigte sich in diesem Gespräch… Und machte mich für den Rest des Tages mehr als nachdenklich.

Sehnsucht nach neuen Führern

Denn zuvor hatte ich ein langes Gespräch mit einem Kollegen, der der Überzeugung ist, daß die Mehrheit der Menschen keine Demokratie mehr will. Daß sie nicht mehr die Wahl haben will, sondern jemanden, der für sie entscheidet. Daß wir in ein neues Zeitalter eintreten, in dem sich die Sehnsucht nach neuen Führern ausdehnt. Daß die Gewißheit, mit der wir noch groß geworden sind, daß nämlich die Demokratie die beste aller schlechten politischen Systeme ist, möglicherweise für viele nicht mehr gilt.

Vielleicht gilt nichts mehr, was wir gestern noch als „Gewißheit“ ansahen. Und während ich das schreibe, läuft im Radio Bob Dylan’s „The Times They Are A-Changin‘“ – na, wenn das kein Zufall ist…

2 Gedanken zu „Let it be

  1. 1. Der « disconnect » zwischen Jung und Alt geht natürlich in beide Richtungen. Wir sind alle nur hier für eine Zeit, für die Dauer eines Punktes in der Ewigkeit – die Alten kaum länger als die Jungen, aufs Ganze bezogen. Aber die Alten glauben oder erwarten, dass die Jungen einen Bezug zu ihrem eigenen Erfahrenen und Erlebten haben müssten. Sie hören die Jungen nicht, die den Kopf schütteln über die Alten, die keine Ahnung von der letzten youtube-Sensation haben, von der Musik, die sie sich in die Ohren stecken oder den letzten Netflix-Serien, die sie verschlungen haben. Wer « jung » sein/bleiben/wirken will, glaubt dann gerne, dass er das schon auch schaffen könne, indem er diesen Interessen der Jungen folgt und es ihnen nachtut – dasselbe hören und sehen mit modernen Tools, aber die Summe der eigenen Erfahrungen und Erinnerungen steht dem jungfräulich-spontanen Erleben immer im Weg. Und so können die Alten die Jungen nicht verstehen und die Jungen nur verwundert zur Kenntnis nehmen, was die Alten mal wieder nicht kapieren oder offenbar von ihnen erwarten.

    Konkret ist in unserem Zeitalter heute anders als zu früherer Zeit, dass moderne Medien auf der einen Seite eine grosse konformistische Suppe schaffen, auf der anderen Seite aber auch Grund für eine starke Segmentierung sind, wo das Wissen und die Interessen des einen vom anderen nicht wahrgenommen werden müssen, anders als beispielsweise im Radiozeitalter.

    2. Nichts ist für die Ewigkeit – ist hier die falsche Schlussfolgerung. Natürlich werden die Beatles nicht vergessen, auch wenn ein junges, im positiven Sinne ignorantes, Pärchen ihnen noch nicht begegnet ist. Aber darum geht es nicht. « Impermanence = Reality ». Die Vergänglichkeit unserer Welt ist ein Zeichen der Ewigkeit. Die Unbeständigkeit, der Fluss unseres Seins… ist ewig. In der « condition humaine », da wir uns stets nach Sicherheit, Beständigkeit und ewig Diesseitigem sehnen, ist diese Realität ausserhalb und jenseits des Greifbaren kaum zu erfassen. Und natürlich geht es auch nicht darum, ob die Leute die Beatles nun noch kennen oder nicht.

    Die vergleichsweise sicher grössere Beständigkeit klassischer Musik gibt da einen Hinweis. Der Appeal der Beatles lag auch darin, dass sie einem spezifischen Zeitgeist Gestalt gaben, aber dieser Zeitgeist ist stärker vergänglich als Klänge, die stärker aus den Tiefen unseres Seins schöpfen, und das ist das, was klassische Musik auszeichnet und sie vergleichsweise weniger vergänglich – bis unvergänglich – macht.

    In der Tiefe unseres Seins ist etwas, das ewig ist, ob da wer die Beatles nun noch kennt oder nicht mehr.

    3. Und dann wieder der Sprung zum Zustand unserer Demokratien… – Nicht, dass diese Erfahrung nun repräsentativ wäre, aber bei den jungen Leuten um mich herum kann ich nichts davon feststellen, dass sich da einer einen starken Führer wünschen würde. Da ist das Interesse, selbst zu führen stärker. Ich nehme aber noch etwas anderes wahr :

    Zum einen den Aufstieg « illiberaler Demokratien » in Osteuropa, wo eine historisch bedingte Furcht besteht vor feindlicher Übernahme – in dem Fall durch den Westen, all zu freiheitliche Ideen, die dem fremden « anderen » einen Platz einräumen etc. Da fällt man lieber zurück in das am Ende doch irgendwie Vertrautere, das an die alte Sowjetherrschaft erinnert und anknüpft. Und natürlich ist dieses Denken und Empfinden nicht auf Osteuropa beschränkt insofern, als es keine Grenze mehr gibt zwischen Ost und West und da sich auch Menschen in ländlichen, strukturell benachteiligten Gebieten psychologisch in solchem Denken wiederfinden und darin Sicherheit suchen.

    Auf der anderen Seite stehen jene, für die die Demokratie eine Selbstverständlichkeit ist wie die Luft zum Atmen. Für sie ist die Fragestellung nach der Demokratie kaum mehr ein « Ding ». Sie kämpfen nicht darum. Sie LEBEN darin, bauen ihre Netzwerke darin auf, nutzen die Möglichkeiten der modernen Informationsgesellschaft, legen wert auf flächendeckenden Internetzugang, auf möglichst schnelles Internet. Sie leben als « digitale Nomaden » in einer Gesellschaft, die unsere gesamte Erdhaftigkeit mitsamt ihren unbedeutenden Debatten über Gesellschaftsformen, Herrschaft und allem habhaften Materialismus einfach nur « petty », kleingeistig und beschränkt, finden.

    Natürlich wollen sie nicht in illiberalen Demokratien leben, die ihnen Hindernisse in den Weg legen, aber das ist nicht ihr Fokus. Künstliche Intelligenz, die Kolonialisierung des Alls u.ä. sind spannender, ebenso wie die Lösung grenzüberschreitender Probleme der Menschheit – Hunger, Krankheiten, Klima… — Für sie ist der Kampf um die Demokratie kein Ding mehr, er hat als Selbstzweck ausgespielt. Wer Demokratie kapiert und verinnerlicht hat, lebt danach – in Freiheit und Verantwortung. Darin liegt der eigentliche Kampf um unsere Freiheit – dass jeder Einzelne diese Freiheit ergreift und sie lebt. Und das findet statt. Definitiv.

    Für Demokratie auf die Strasse gehen findet parallel ebenfalls statt – beispielsweise in Warschau oder Budapest oder Washington, aber wer da nicht mitläuft, ist nicht zwangsläufig apolitisch, an Demokratie nicht interessiert oder gar Befürworter illiberaler Demokratie.

    Und wie geht es also damit weiter, welches ist die Zukunft unserer Demokratien ? Das ist schwer abzusehen. Wer wird am Ende siegen, die risikobereiten, mutigen Visionäre oder jene, die ihre Freiheit gerne gegen vermeintliche Sicherheit austauschen ? Welche Kräfte werden siegen, wer wird am Ende – am Ende ?! – das letzte Wort haben ? – Ich weiss es nicht. Jeder kann nur für sich selbst überlegen, ob er nun frei und gefährlich oder « sicher » und unfrei leben will und ob es ihm/ihr genügt, privat so zu denken und danach zu leben oder ob er/sie es in der Strasse demonstrierend oder schreibend und redend in der Politik tun will.

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